Dies ist die Geschichte des großen Magiers Jorgen. Doch sie beginnt mit einer gänzlich anderen Person …

Lars war schon immer der ganze Stolz und Liebling des Nordvolkes der Hornar gewesen. Als ältester Sohn einer illustren Familie wurde er stets mit Ehren und Aufmerksamkeit überhäuft. Und als die Eltern von Lars und Jorgen von Wegelagerern kaltblütig ermordet wurden und ihre jüngere Schwester Krista verschleppt wurde, erklärten die Hornar den jungen Lars zu ihrem neuen Anführer. Über viele Jahre lebte Jorgen im Schatten seines letzten lebenden Angehörigen.

Als Kind hatte er Lars angehimmelt und versucht, ihm in allen Belangen nachzueifern. So studierte er eifrig die magischen Künste und war stets darum bemüht, den Hornar auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Sein älterer Bruder jedoch, der von seinem eigenen Ruhm und Glanz mitgerissen wurde, würdigte seine Bestrebungen nur selten. Jorgens Erfolge konnten noch so groß sein, er bekam nie Lob oder Zuspruch dafür, denn Lars heimste den ganzen Ruhm dafür ein. In Jorgens jungem Herzen loderten Hass und Neid. „Wieso geschieht das? Warum kann ich es diesen Leuten nie rechtmachen?“, fragte er sich immer und immer wieder, wenn er sich einmal mehr in einen entlegenen Winkel des Alderwalds zurückzog.

„Ich weiß, was dir auf dem Herzen liegt“, unterbrach plötzlich eine Stimme seine verzweifelten Gedanken. Ein kurzgewachsener Mann betrat die Waldlichtung. „Auch ich bin ein Ausgestoßener, aber ich habe mich für einen anderen Pfad entschieden: den Pfad eines Exilanten, der wahrhaftige Größe erreicht hat! Ich glaube, wir sind dazu bestimmt, diesem Pfad gemeinsam zu folgen, Jorgen. Was sagst du dazu?“

„Ein Ausgestoßener bist du? Ein Exilant?“ Diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit erfüllte die Seele des jungen Mannes mit unvorstellbarer Pein. „Was ich auch tue, das Volk der Hornar wird mich nie als einen der ihren anerkennen! Alles dreht sich immer nur um Lars, Lars, Lars!“ Überwältigt von diesen Gefühlen, sprang Jorgen auf und folgte dem Mann, den er soeben erst getroffen hatte, ohne weitere Nachfrage.

Der Fremde sollte sich als niemand Geringerer als Shavarakk herausstellen, ein mächtiger Zauberer der Finsternis. Jorgen verschlang das Wissen förmlich, dass der Zauberer an ihn weitergab. Shavarakk verherrlichte ihn, nannte ihn seinen Nachfolger und Erben. Wie gut es doch tat, endlich von jemandem gelobt und beachtet zu werden! Die ganze Sache hatte jedoch einen ziemlich üblen Haken: Der Zauberer führte seltsame, morbide magische Experimente an seinem Lehrling durch, die den jungen Mann schrecklich entstellten. Ein krummer Buckel, leichenblasse Haut, zwei spitze, gewundene Hörner … So sollte sein Lehrling Shavarakk zufolge aussehen.

Die Manipulation menschlicher Lebenskraft und -energie gehörte zu den Stärken des jungen Magiers. Tagein, tagaus übte er an immer neuen Opfern, die Shavarakk ihm zur Verfügung stellte. Je mehr dieser Seelen Jorgen verschlang, desto stärker wurden auch seine Kräfte. „Wie überrascht mein Bruder sein wird, wenn ich seine kleine Welt mit meiner unaufhaltsamen Magie zerschmettern werde!“ grinste er voller Stolz, als er einem weiteren Opfer das Leben aussaugte. Bereits jetzt war Jorgen unglaublich mächtig geworden. Als seine Ausbildung sich endlich dem Ende zuneigte, sagte Shavarakk zu ihm: „Du bist jetzt bereit, wahrlich sakrales Wissen zu empfangen, mein Schüler. Doch zuerst musst du der Finsternis deine Loyalität beweisen, indem du das opferst, was dir in deinem vormaligen Leben am wichtigsten war. Du musst deinen Bruder töten!“ „So soll es sein!“, rief Jorgen und klatschte erwartungsvoll in die Hände. Und doch war seine Stimme nicht von Freude erfüllt …

Als sich die Brüder nach all der Zeit endlich wieder gegenüberstanden, erkannte Jorgen Lars kaum wieder. Sein Haar war weißer als Schnee und sein ehemals perfektes Gesicht durchzogen tiefe Furchen. Die müden Augen eines in die Ecke getriebenen Wolf, ein pfeilgerader Rücken und zu Hämmern zusammengeballte Fäuste zeugten vom harten Leben eines Anführers der Hornar. Die Stimme des Zauberers erklang in Jorgens Ohr. „Töte ihn! Töte Lars!“, brüllte der Zauberer. Jorgen hob einen magischen Kelch über seinen Kopf, flüsterte eine Zauberformel und riss ihn danach mit voller Wucht nach unten – direkt auf Shavarakks Haupt.

Während der Zauberer mit dem Tod rang, nickten sich die beiden Brüder nur stumm zu. In ihren Augen fand sich keine Spur von Hass oder Neid. Jorgen erkannte, dass Lars sich verändert hatte. Er war den Jubel der Massen leid und wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Familie wiederzuvereinen. Er hatte viele Jahre lang nach seinem Bruder und seiner Schwester gesucht. In seinem Herzen hatte sich schmerzende Einsamkeit breitgemacht, doch er war zuallererst seinem Volk verpflichtet. Derweil war Jorgen, durch Verachtung geblendet, den Verlockungen des dunklen Magiers erlegen und in Ungnade gefallen. Auf ihren Wegen hatten beide so viele Fehler begangen, so viele Unschuldige hatten ihr Leben lassen müssen …

Reumütig schworen sich die beiden Brüder, für ihre Missetaten Buße zu tun. Und so schlossen sie sich den Reihen der sagenhaften Wächter an, um den Frieden im Dominion zu sichern.