Nacht. Mama kocht etwas in der Küche. Es riecht unangenehm, aber das Mädchen weiß, dass es so riechen muss. Mama hat viele verschiedene Kräuter, jedes mit eigenen, besonderen Eigenschaften. Artemis kuschelt sich fester in ihre Decke und beobachtet ihre Mutter weiter mucksmäuschenstill. Mama wirbelt durch die Küche und fügt ihrem Gebräu ständig weitere Gewürze, getrocknete Nager und büschelweise farbenfrohe Beeren hinzu. „Muss was Gesundes sein!“, denkt sich das Mädchen, als es die Augen schließt und ins Land der Träume entschwindet.

Ihre Mutter wusste, dass Artemis ihr zusah, also wartete sie geduldig ab. Nachdem das Mädchen eingeschlafen war, trat sie an ihr Bett und pikste ihren Finger mit einer Nadel, um ihr einige wenige Blutstropfen abzunehmen. Ihre Tochter merkte davon nichts. Perfekt! Das Kraut, das sie heute noch in den Abendtee gegeben hatte, hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Schlaf wohl, Artemis – auf dich wartet Großes …

Als das Mädchen aufwachte, rannte sie sogleich nach draußen. Die schwachen Strahlen der Sonne konnten das dichte Blätterdach des Waldes, der ihr Haus umgab, nur mit Mühe durchdringen. Mama mochte das Sonnenlicht nicht besonders, weshalb sie normalerweise tagsüber schlief. Aber heute hatten Artemis und ihre Mutter Wichtiges vor: Sie würden dorthin gehen, wo die anderen Leute wohnten! Artemis lag ihrer Mutter schon seit langer Zeit damit in den Ohren, sie endlich kennenlernen zu dürfen. Sie hatten nur selten Gäste zu Hause und wenn, dann gingen sie alle immer fast sofort wieder. Ihre Mutter hatte ihr streng verboten, den Wald zu verlassen. Doch endlich war die Zeit gekommen, dass Artemis die anderen Bewohner treffen durfte! Das Mädchen packte ihre kostbarsten Habseligkeiten in ihre Reisetasche, Darunter befand sich eine alte Armbrust, die eins ihrem Vater gehört hatte – behauptete zumindest ihre Mutter.

Nach einer zweistündigen Wanderung erreichten sie den Rand eines kleinen Dorfs. Ihre Mutter trat forsch in eins der Häuser ein und nach kurzem Zögern folgte sie ihr hinein. Statt eines herzlichen Empfangs jedoch musste sie mitansehen, wie ihre Mutter einem der Dorfbewohner eine schmale Klinge in die Brust rammte. Vor Furcht zitternd, verließ Artemis fluchtartig das Haus und erblickte dort andere Frauen, die ihrer Mutter sehr ähnelten, aus anderen Häusern kommen, blutverschmierte Messer in den Händen. Jede von ihnen trug eine Schüssel mit einem nicht näher definierbaren Gebräu Richtung Dorfmitte. Sie hielten ihre Klingen über die Schüsseln, sodass das Blut hineintropfen konnte. Aber das Schlimmste daran war, dass sie alle ein breites Lächeln auf den Lippen hatten!

Artemis spürte eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte instinktiv zusammen, als sie in das Antlitz ihrer Mutter blickte, ein Anblick, der ihr zum ersten Mal in ihrem Leben Angst einflößte. „Du bist jetzt kein kleines Mädchen mehr“, sagte ihre Mutter zu ihr, als sie ihr liebevoll, aber bestimmt in die Schulter kniff. „Die Zeit deines Aufnahmerituals ist gekommen! Dein Blut muss von allen menschlichen Spuren gereinigt werden, vom Blut deines Vaters!“ Als sie sprach nickten die anderen Frauen zustimmend, noch immer ein Lächeln im Gesicht, und gossen den Inhalt ihrer Schüsseln in einen riesigen Kessel. Artemis erkannte, dass ihre Mutter und diese Frauen Hexen sein mussten und ihr Vater, wie auch all die anderen Dorfbewohner, von ihnen umgebracht wurden. Und durch dieses Ritual würde auch sie eine ruchlose Mörderin werden – genau wie sie.

Ihr wurde aber auch bewusst, dass die vielen Stunden, die sie zur Mittagszeit, als ihre Mutter schlief, mit der Armbrust ihres Vaters verbracht hatte, nicht umsonst gewesen war. Noch war Artemis keine Hexe, weshalb ihr die Sonne nichts weiter als Freude spendete. Sie hatte nicht vor, dieses Glück aufzugeben.

Das Mädchen zückte ihre Waffe und durchbohrte mehrere Hexen mit einem einzigen Bolzen. Die anderen hatten kaum Gelegenheit, überhaupt auf diese unerwartete Entwicklung zu reagieren, bevor auch sie Artemis’ Treffsicherheit zum Opfer fielen. In nur wenigen Augenblicken war ihre Mutter die einzig verbleibende Hexe. „Jetzt weiß ich es: Ich bin die Tochter eines Hexenjägers“, sagte Artemis betrübt, als sie mit sich haderte, ob sie ihre Mutter auch töten sollte. „Das war also das Blut, das du mir nehmen wolltest. Ich werde dich nicht töten, so wie du meinen Vater getötet hast, aber eins sollst du wissen: Euch Hexen erwartet das Ende. Ich werde die Pflichten des Jägers übernehmen!“

Und mit diesen Worten verschwand das Mädchen in den Tiefen des Waldes. Mehrere Monate später, in denen sie einsam umherstreifte, wurde sie von einer Gruppe erfahrener Wächter gefunden, die sie aufnahmen. Kurze Zeit darauf war sie ein vollwertiges Mitglied ihrer Truppe. Seit diesem Tage kann der tapferen Jägerin im Umgang mit dem Bogen niemand mehr das Wasser reichen und ihre vielen glorreichen Taten sprechen für sich.